Mittwoch, 13. Juli 2011

Faust III - Eine ländliche Komödie....

.... in 3 Szenen insbesondere für Kenner der Verschreibkunst, vom großen Widersacher alles Guten gewidmet den Gebildeten unter seinen Verächtern.


2. Szene, in der wiederum gesungen, getrunken und gefeiert, aber auch gesprengt, gerechnet, fast gestorben und klistiert wird.


Die Nachterstädter also hielten unter dem Vorwand einer Bürgerinitiative gegen den Autobahnzubringer ihre Orgien ab, und nur die leichten seismischen Erschütterungen des Moorbodens verrieten ihnen die wenige Kilometer entfernte Anwesenheit einer gewaltigen, unterirdischen Potenz, der unbändigen Stampf-Kraft großen Vorsitzenden und seines Getreuen. Als die Festgesellschaft die bedrohlichen Schwingungen aus der Uhrenreege empfing (sogar das Kerzenlicht auf dem Tisch vibrierte ängstlich mit), trat ein eisiges, klammes Schweigen ein, und auf der Stirn des Antiquarius Blocker, dieses dickbäuchigen Hintertreibers alles Sinnreichen, der mit weit geöffnetem Hemd und Brusthaartoupet, in jedem Arm eine Dame zweifelhafter Gesinnung, auf einem Flokatiteppich vor seinen Bücherregalen lungerte, bildeten sich Perlen, jedoch keineswegs aus dem Schweiß des Gerechten.

"Sollte", so fragte sich die autobahnzubringerfeindlichen Rotte, "dies die Feuerschrift an der Wand sein, die einst Belsazar warnte? Oder sind's nur aushäusige kopulierende Wildsauen, die unseren herrlichen Saal zum Beben bringen?" - "Nun, sei es wie es sei! Der Kampf geht weiter, getreu unserem Motto: Wo keine Autobahn, da kein Zubringer! Was, mein lieber Sefarde?!" wendete sich der Unkeusche, Unbeschnittene an seinen Mitstreiter, den listigen Alibi-Zirkusdirektor Jorge Sefarde, der -aus einer alten Familie galizischer Schausteller stammend- zum Schein einen Zirkus im nahen Klötermoor unter einem großen, grünen Kuppelzelt betrieb. Gerüchte, gelegentlich locke er unter dem Vorwand, es beginne gleich eine Aufführung mit noch nie gesehenen Attraktionen, ein paar Touristen dort hinein, pflocke sie mit seinen Helfershelfern an und mäste sie mit Bohnen und rohen Zwiebeln, um die bei den folgenden Gärungsprozessen entweichenden Gase in einem komplizierten Prozeß in Energie umzuwandeln, mit der er wiederum seine aufwendige Zirkusbeleuchtung unterhalten könne, wurden zwar nie bewiesen, aber auch nie widerlegt. Übrigens war dieser Kreislauf unter dem Begriff der "Organischen Methanogenese" im Rahmen des "Zu erneuernden Energie-Gesetzes" (ZEEN) stark subventioniert; die Verwendung von Touristen, die man nach Gebrauch traditionell auf den nahegelegenen Landflächen entsorgte, hatte allerdings den entschiedenen Nachteil, daß diese dagegen lautstark protestierten und Schwermetalle absonderten. Weswegen man sich bei der Füllung des grünen Zeltes wohlweislich auf Mais und bereits tote einheimische Lebewesen beschränkte.

"Soll mir nicht drauf ankommen!" rief Sefarde beseelt, und krachend schlug sein Trinkhorn gegen das des skrupellosen Buchhändlers - eine schöne Gesellschaft, zu der sich auch noch der schwerstens angetrunkene Immobilienhai und Freizeitkonstrukteur Tjark Schatten gesellte, der dank seines (mithilfe eines selbstentwickelten Tarnanstrichs unsichtbar gemachten) Parks aus Windrändern ein auskömmliches Leben führen konnte, gefolgt von Herman von Fehn, einem ortsbekannten Bänkelsänger und Nebenerwerbslandwirt, dessen Balladen -mit rührendem niederländischen Akzent vorgetragen- ihn zum Schwarm aller Damen im Umkreis mehrerer hundert Meter machten. Gerade wollte von Fehn anheben, eine besonders traurige Ballade zum Besten zu geben ("Auf dem Gülle-Highway ist die Hölle los" - in Nachterstadt ein Erfolgsstück), als es im Saale furchtbar blitzte und donnerte und ein sehr umfangeicher, nur mit einer gewickelten Toga bekleideter Mann erschien, auf dem Haupte eine rotierende Discokugel, an den gespreizten Füßen römische Sandalen.

Auf die Frage, ob er vom Landesamt für Geodesinformation und Leidenschaft komme, umwölkte sich sein Haupt und er rief in lupenreinem Dortmunder Dialekt, er sei Bacchus, der Gott des Weines und der Orgien, und er sei vom Olymp bzw. der Olympiastraße gekommen, um diesem widrigen Treiben ein für allemal ein Ende zu setzen! In Wirklichkeit aber handelte es sich um den verkleideten Norderschweizer Frantisek-Josephus Gaiser, der das hooliganmässige Treiben der Nachterstädter für ein großes Übel hielt und als gelernter Veranstaltungselektroniker über eine wahre Pandora-Büchse an Mitteln verfügte, um die Versammlung zu sprengen, als da wären Sirenenklang & Kanonendonner vom Tonband, Kunstnebel, Lach- und Tränengas und eine mehrfarbig reflektierende, drehende Diskokugel, die er mittels einer komplizierten Konstruktion als Ersatz für einen Heiligenschein über dem Kopf trug. Die erschreckten und eingenebelten Nachterstädter stoben in alle Himmelsrichtungen davon, und Bacchus sah zufrieden, die starken, kurzen Arme in die Hüften gestemmt, wie ein römischer Imperator auf das kampflos geräumte Schlachtfeld.

Von diesen an sich ja positiven Entwicklungen konnte der große Vorsitzende in der Uhrenreege noch nichts wissen. Auch war mittlerweile sein unruhiger, nach vorne strebender, ja explorativer Geist, der selten bei nur einem Problem verweilen konnte, auf etwas Neues, Großes, gerichtet. Es war nämlich in der Zwischenzeit der Vollmond aufgegangen und strahlte in seiner ganzen Pracht.

"Ah!" rief der große Vorsitzende, "chrrrn! Übt er nicht eine geheime, unsichtbare Anziehung auf uns aus? Gaben ihm die Alten darum nicht Frauennamen? Die schöne Diana, die blonde Phoebe, die liebenswürdige Isis, die charmante Astarte, Königin der Nächte, Latones und Jupiters Tochter und des strahlenden Apollo jugendliche Schwester!" Der große Vorsitzende verfiel in einen traceartigen Zustand wie immer, wenn er Bedeutendes schaute. "Wie groß mag er wohl sein, der Mond, lieber Osterholt?"

Osterholt zog einen Zollstock aus der Manchesterbüx und hielt ihn vor den Mond. "Oh, ich glaube wohl, fast 5 Zentimeter! Und hat sich in den 40 Jahre, die ich auf mein' Hof sitze, um keinen Zentimeter..." - "Ach, Unsinn, Osterholt, er ist ja weit weg und muß viel größer sein!" belehrte der große Vorsitzenden seinen Freund in Sachen sphärischer Trigonometrie, "ich meine mich zu erinnern, daß Günther Jauch bei Wer wird Millionär gesagt hat, er wäre über SECHSTAUSEND METER groß!" Osterholt schlug sich mit der Hand vor die Stirn: "Över SEX-DUUSEND METTER! Dat mutt man sick mol vör-stellen! Dat is scha bold so wiet as von hier no' den Quaderbusen!"

Der große Vorsitzende nickte starknervig. "Bring mir schnell den Rechenschieber, lieber Osterholt, wir wollen einmal ausrechnen, wieviel Hektar Land sich dort befinden... Danke Dir, du guter Mensch, der Du seit 40 Jahre auf Dein'... naja, ist auch egal... also wie rechnet man das denn gleich... hm... chrrrrrn..." Die crèmanten Haarspitzen begannen ein wenig sich zu kräuseln, wie immer, wenn das Gehirn des großen Vorsitzenden stark arbeitete. Osterholt sprang helfend ein: "Pi, un' denn mol Radius Kwadraat, un' denn mol twee, vun wegen der Vorder- un' Rückseite!" - "Richtig, lieber Osterholt, denn wie jede Scheibe hat der Mond zwei Seiten!" - Die Spannung stieg ins Unermeßliche, und an den äußersten Kräusellöckchen Splittings bildeten sich kleine elektrische Flämmchen, St. Elms-Feuer, die ihm etwas Überweltliches, fast Heiliges verliehen, als er seine komplizierte Berechnung begann, begleitet von den frommen Gebeten seines Adlatus.

"Also Radius äh Drei Kilometer Kwadraat mal PI äh Drei Komma Eins Vier sach' ich mal grmpf... ah... das ergibt denn etwas über Achtundzwanzig Kwadraatkilometer mal Hundert, das sind denn fast... fast Zweitausendachthundert Hektar!" - "Mal zwei!" tüffelte Osterholt altklug hinterher. - "Mal zwei: Fünftausendsechshundert Hektar! Das ist mehr, als wir jetzt haben, lieber Osterholt! Das ist etwas mehr!" Vor dem geistigen Auge des großen Vorsitzenden entfaltete sich eine agrarökonomische Musterlandschaft mit emsig hin- und herfahrenden Schleppern, in Sechserreihen grasenden Kühen, endlosen Maisfeldern und einem rautenartigen, engen Netz betonierter Straßen ohne Tonnage-Begrenzung. "Mein Gott, wenn man das dortige, sicherlich nur extensiv bewirtschaftete Land an sich brächte und eine zeitgemäße Wirtschaft einführte, was für Ladewagen kämen dort wohl zum Einsatz!?" - "Größere als die auf mein' Hof, auf dem ich seit 40 Jahre' sitze..." - "Und keiner, der unseren herrlichen Gang stören könnte!" Die Augen des großen Vorsitzenden wurden blank und groß, "keine Buchhändler, Inschenieure, keine Badenser... keiner, der uns für dumm verkaufen könnte!" - "Aber auch keiner, den wir für dumm verkaufen könnten!" ergänzte Osterholt scharfsinnig. - "Aber, lieber Freund, bedenkt doch: Wir sind die Guten! Oh, welche Fluren dort zur Bereinigung anstünden! Welches Landes-Ministerium ist wohl für den Mond zuständig, Niedersaxen? Für die Rückseite doch wohl auf jeden Fall..."

Mitten in diese Vision des Vorsitzenden sprang das Tor zur Halle auf und eine Dreiergruppe ziegenbärtiger älterer Männer im Pelzmänteln wehte mit einer Wolke von Schnee und Eis hinein. Es handelte sich um Gelehrte aus dem fernen Göttingen, Abgeordnete der dortigen Akademie der Wissenschaften, die vom Landesamt für Geodesinformation und Leidenschaft beauftragt worden waren, die Stichhaltigkeit der Pläne des großen Vorsitzenden hinsichtlich des Autobahnzubringers streng zu prüfen. Der große Vorsitzende, war auch für diese Herausforderung bestens präpariert und spielte seine bislang verborgenen Trümpfe, Spontaneität und Weltläufigkeit, gekonnt aus. Kurzerhand waren die großen Plan-Karten auf dem Tisch und die Krüge voller Vorzugsmilch (mit einem Schuß Silagesaft) gefüllt. Die Gelehrten staunten nicht schlecht, als sie die Zeichnungen und Entwürfe sahen, und begannen ihre strenge Inquisition.

"Lieber Vorsitzender, wo ist denn die Autobahn, zu der ein Zubringer ja notwendigerweise führen muß?", wollten die Gelehrten neugierig wissen. "Erstens ist die Autobahn gleich da hinten!" erklärte Splitting und wies auf einen Ort weit jenseits des Tisches, "und zwar ungefähr in gedachter Linie, na was! Und außerdem: Wo steht geschrieben, daß ein Autobahnzubringer unbedingt eine Autobahn voraussetzen muß? Wir wollen die Region wirtschaftlich fit für die Zukunft machen, und uns nicht von gegenwärtigen Beschränktheiten einengen lassen! 99% zahlt das Ministerium, 1% kommen durch freiwillige Spender!" Dieses Musterstück argumentativer Rhetorik, deren virtuose Beherrschung den großen Vorsitzenden weit über die Grenzen seiner Heimat berühmt gemacht hatte, leuchtete den Gelehrten unmittelbar ein, und sie gingen weiter ins Detail, befeuert von der silagesafthaltigen Vorzugsmilch. "Was aber geschieht mit den Bewohnern der Bauernhöfe, hicks, die abgerissen werden sollen?" - "Die werden umgesiedelt" triumphierte Splitting mit der ihm eigenen Nonchalance, auch für diese Frage gewappnet, "die kommen sowieso von anderswo her! Und in Nachterstadt stehen wunderschön ausgestattete Barack... äh Sonderbauten zur Verfügung, die die Gemeinde uns freundlicherweise zur freien Verfügung hält!" - "Oh, aha, aber wie soll denn auf diesem Wirrwarr von Wegen, Abzweigungen, Umleitungen, Über- und Unterführungen überhaupt gefahren werden, hicks, würg?" - "Das ist ganz einfach!" Der große Vorsitzende nahm einen Spielzeugschlepper zur Hand: "So hoch, und da hinunter, rechts und dann links, und hier: Vorfahrt beachten! Dann im Schnellrestaurant einen Splitting-Burger mit Bradketowweln und Majo, und dann wieder dort hinein, hihi, und rauf und runter und dann: Tankpause und rein im Madame-Club!" Und der große Vorsitzende wies mit seiner starken Bauernhand auf das rot markierte Kernstück des geplanten Vergnügungsparks, an dessen Tresen die Fernfahrer Erquickung und Ablenkung von ihrem traurigen Alltag finden sollten. Die Gelehrten waren begeistert und erhöhten nochmals die Trinkfrequenz. "Wahrlich, Ihr habt an alles gedacht, großer Vorsitzender! Nur ist uns schon ganz schwindelig vom vielen Hin- und Herfahren! Börps! Deswegen nur noch eine letzte Frage: Wieso muß der Autobahnzubringer denn ausgerechnet mitten in Nachterstadt gebaut werden, argl..." - "Warum?!" Der Vorsitzende erhob sich zu seiner ganzen Größe, und der mächtige Schatten seiner 5 Fuß und 4 Zoll verdunkelte gespenstisch das Mondlicht. "Weil ich es so will!" - "Wahrlich, das ist genug!" schrien die Gelehrten erregt durcheinander, fielen stumpf um sagten keinen Ton mehr.

Was für ein Ärger! Diese akademischen Eierköpfe! Sternhagelvoll von ein paar Schlückchen Vorzugsmilch mit Silagesaft! Osterholt und Splitting näherten sich vorsichtig. "Vielleicht hätten wir den IBC-Tank doch vorher ausspülen sollen", räsonnierte Osterholt. "Unsinn!" rief der große Vorsitzende, "wo das Wasser doch so teuer geworden ist! Lauf, hol das Pferde-Klistier und eine Flasche Alter Hullmann! Das wirkt Wunder." - Liebe Leser, vom dem, was folgte, wollen wir hier stille schweigen. Nur soviel: Wenig später war die Delegation schon wiederbelebt und konnte dem Landesamt für Geodesinformation und Leidenschaft Niedersaxen nur Positives berichten, überwältigt von der traditionellen Stadländer Gastfreundschaft und erfüllt von der visionären Kraft des großen Vorsitzenden einerseits, des Alten Hullmanns andererseits. Daß dieser Bericht stehend erfolgte, obwohl man die Herren mehrfach zum Sitzen nötigte, war ebenfalls dem großen Respekt der Gelehrten vor der visionären Kraft des großen Vorsitzenden einerseits, des Alten Hullmanns andererseits geschuldet.

Und so nahm das Unheil für die Nachterstädter seinen Lauf.


[Ende der zweiten Szene]

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Lesen Sie bald in diesem BLOG:

Szene 3

- Wie sich der Autobahnzubringer als mächtiger regionaler Wirtschaftsfaktor etabliert.
- Wie die Nachterstädter ihrer Bürgerrechte verlustig gehen, in klirrenden Ketten abgeführt und dadurch beinahe zu besseren Menschen werden.
- Wie der große Vorsitzende zu neuen Welten aufbricht, die noch nie ein Mensch zuvor besiedelt hat.

Samstag, 9. Juli 2011

Faust III - Eine ländliche Komödie....

.... in 3 Szenen insbesondere für Kenner der Verschreibkunst, vom großen Widersacher alles Guten gewidmet den Gebildeten unter seinen Verächtern.


1. Szene, in der gereimt, geweint, geplant, geflucht, gestampft, gesungen und gegutachtet wird.

"Ich hab's getragen zehen Jahr und trag' es nimmermehr!" seufzte der große Vorsitzende des Landesvolkschaftsverbundes, Karl-Otto Splitting, das schwere Kassengestell auf der spitzen Nase zurechtrückend, durch das Halbdunkel der großen Halle seines niedersächsischen Rauchhauses. In dessen Mitte loderte eine herrschaftlich beizende Flamme und trocknete die auf dem umlaufenden Gesimse versammelten Schrumpfköpfe der gefallenen Feinde aus - eine stolze Sammlung illustrer Häupter, bis auf die Bronzezeit zurückreichend, als seine Vorfahren das Moor urbar gemacht und mit all dem Takelzeug aufgeräumt hatten, welches vörderhin dort so herumkrebste. Splitting tastete verwirrt nach dem sorgfältig mit Haarcreme geglätteten, quer auf dem kahlen Haupt befestigten Seitenhaar, welches schon deutlich graumelierte und dem großen Vorsitzenden anzeigte, daß es bald Zeit zum Einrücken sein würde bzw. Zeit, Ämter und Tagwerk ruhen zu lassen und sich auf seine unüberschaubaren Ländereien zurückzuziehen.

"Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren laß die Winde los!"

rezitierte der große Vorsitzende, dessen Liebe zur Literatur und den schönen Künsten weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, den norddeutschen Bauernpoeten Rainer Maria Rilke. - Und auf den Fluren laß die Winde los : Au wei, da war es wieder, jenes Wort, welches des großen Vorsitzenden Eintritt in den Lebensabend zu überschatten drohte und ihm die Gicht in die arbeitssamen Gelenke trieb: Die Fluren waren noch immer nicht bereinigt, das Lebenswerk noch nicht vollbracht! Wut und Trauer kämpften in der Seele unseres Flurbereinigungs-Heros, und es obsiegte die Trauer ob des Unverstandes der Menschheit, namentlich jenes Teils der Menschheit, der sich im benachbarten Weiler Nachterstadt angesiedelt hatte und aus allerhand ambulantem Volk bestand, auf das man keinen Pfifferling geben mochte, und das mit viel Geschrei und Gedöns gegen seinen herrlichen Ratschluß aufbegehrte.... Trauer umfing sein Herz, und er trat vor das große bleiverglaste Fenster und rezitierte weiter:

"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt ein Landwirt ist, wird's ewig bleiben
Ans Ministerium lange Briefe schreiben
Und wird auf Schotterwegen hin uns her
Unruhig wandern, wenn die Häcksler Silo schneiden."

Splitting hatte nicht bemerkt, daß sich von hinten sein getreuer Adlatus, der ehemalige Landwirt Osterholt, ihm zärtlich angenähert hatte und dem Schluchzenden seine von vielen Jahren entsagungsvollen Geldnachzählens gegerbten Hände auf die Schultern legte und also sprach:

"Herr, Ihr habt schon ein Haus gebaut: Euren schönen Altersruhesitz, mitten auf der weiten Flur, wo kein Baum stören kann und anderer Unrat, der von Euch nicht gesät wurde und so frech ist, trotzdem zu wachsen. Ein schönes Haus ist's, mit Innensproßen in den Plastikfenstern, einer Doppelgarage für den Opel Geronta, beleuchteter Warmwasserspülung auf dem Aborte, Treppenlift und sogar Krüppelwalmimitat! Ich sitze nun seit 40 Jahre auf mein' Hof..."

"Ach, lieber Osterholt, Ihr habt wohl recht, nur hinein kann ich noch nicht! Und warum nicht? Weil mein Lebenswerk, der vierspurige Autobahnzubringer mit Rastplatz, Tankanlage und Vergnügungscenter zwischen der Uhrenreege und Nachterstadt vom Landesamt für Geodesinformation und Leidenschaft Niedersaxen noch nicht planfestgestellt wurde! Und warum wurde er noch nicht planfestgestellt? Warum nicht?"

Ein heftiger Weinkrampf schüttelte den großen Vorsitzenden. Osterholt versuchte zu helfen:

"Ich sitze seit 40 Jahre auf mein' Hof! Seit Vier-zig-Jar-re! Aber das...!!"

Der große Vorsitzende wehrte seinen Getreuen unwirsch ab:

"Wer will das denn wissen? Nein, das echte Übel, die eigentliche Geißel, der wahre Widersacher alles Guten, das ist diese eine Kreatur, ah! Nein, Kreatur nehme ich zurück, denn das verweist auf etwas Geschaffenes, und ER wuchs nur zufällig aus einer bösen Ausdünstung des Bodens hervor! Jener, dessen Name mir für alle Zeiten unaussprechlich sein wird! Er, der Verhinderer! Ich wollte die Wasser für Alle teilen, wollte ich, chrrrrn, aber ER, oh ER!!"

Der große Vorsitzende redete sich in Rage. Oh, könnte er jenen Belial und sein Fliegenheer, das ihn in seinem elenden Treiben unterstützte und gegen den segensbringenden Autobahnzubringer aufbegehrte, der durch die angeflanschte Rast-Tank-Vergnügungsstätte den darbenden Landwirten in der Region ein schönes Auskommen ermöglichte, nur zermalmen! Könnte er ihn nur zerquetschen wie jene kleinen widerlichen schwarzen Käfer, die nachts vom Flett in sein Bett hinunterkrabbelten, um mit ihren spitzen kleinen Rüsseln sich an den Resten seiner Haarcreme zu besaugen. Grmpf! Schrmpf! Wrrschn! Allem voran galt es, IHN in die Schranken zu weisen, IHM das Lästermaul zu stopfen, IHM, dessen Hirn durch die Lektüre zahlreicher schlechter Bücher offenbar aufgeweicht worden war, IHM, diesem windigen Händler, von dem man nicht wußte, woher er seine Gelder und Apanagen bezog (vom Verscheuern des alten Drecks konnte er ja unmöglich leben), IHM, diesem...

"Blocker! So war ich seit 40 Jahre auf mein' Hof sitze! Der Name ist Programm! Blockiert alles! Blocker, Polocher oder so ähnlich! Heißt er! Kaum so alt wie ich auf mein' Hof sitze! Und blockiert alles!"

Osterholt stampfte wütend mit dem rechten Fuß auf den verdichteten Lehmboden der Halle, und das Moor übertrug seinen stummen Protest mit dumpfen seismischen Schwingungen weit über die Uhrenreege hinaus bis ins nahe Nachterstadt, wo in einem hell beleuchteten Saale voller Bücher die Festgesellschaft der Gegner des Autobahnzubringers Nachterstadt unter dem Absingen zweifelhafter Lieder und mit Zuhilfenahme allerlei dunkler Likörchen lärmend ihr frugales Mahl zu sich nahm.

"If you're going to Nach-ter-stadt City", so sang die angeheiterte Truppe, "be sure to avoid the Autobahn-zu-brin-ger"; "Es geht ein Weg nach nirgendwo"; "All streets come to an end", "Strassen ohne Ziel", und viele andere populäre Lieder, in denen die Planung des großen Vorsitzenden und seiner Getreuen veralbert wurde. Dabei hatte die Festgesellschaft die denkbar schlechtesten Argumente: Hauptsächlich berief man sich auf die Tatsache, daß die nächste Autobahn über 15 Kilometer entfernt, noch hinter Quaderberg, liege, und ein Autobahnzubringer deshalb vollkommen sinnlos sei. Dafür wolle man nicht Haus und Hof opfern [immerhin sollten sieben historische Landhäuser abgerissen, deren Bewohner in die ortsüblichen Schlichtbauten umgesiedelt und der überwiegende Teil der verbleibenden Resthöfe als Schaubauten in den neuen Vergnügungspark integriert werden]. Die rein auf Eigennutz basierende Fadenscheinigkeit dieser Argumentation war offensichtlich und schrie zum Himmel; was von dem einzigen objektiven Geist in Nachterstadt, dem Rechtsgelehrten Dr. Teichmann, glücklicherweise frühzeitig erkannt und sogar in einem ausführlichen Gutachten langweilig bewiesen wurde. Dazu analysierte Dr. Teichmann messerscharf heraus, daß die gesamte Festgesellschaft nur gegründet worden war, um sich unter dem Mäntelchen einer angeblichen Bürgerinitiative gepflegt zuschütten, besaufen und volldröhnen zu können. Die Saubande, die ausgeschamte! Aber was half's? Solange die Nachterstädter ihren Widerstand aufrecht erhielten, war die Planung gefährdet.

[Ende der ersten Szene]

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Lesen Sie bald in diesem BLOG:

Szene 2

- Wie die Nachterstädter es immer doller treiben bis ihnen Bacchus, der Weingott, erscheint.
- Wie die Aufmerksamkeit des großen Vorsitzenden hin zu größeren Aufgaben gelenkt wird.
- Wie eine Abordnung der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften beim Versuch, den Plan des Autobahnzubringers zu verstehen, ins Delirium fällt und nur Dank einer Flasche Alten Hullmanns ins Leben zurückfindet.